Meine Hogwarts-Schülerin hat 3000 Fehlstunden und Schuld sind Ballons

Obwohl mein Charakter in Hogwarts Legacy den Traum meines 15-jährigen Ichs leben und die berühmte Zauberschule aus Harry Potter besuchen darf, verbringt sie sehr wenig Zeit dort.

Unterricht? Nein danke, ich hab besseres zu tun. "Unterricht? Nein danke, ich hab besseres zu tun."

Anstatt brav zur Schule zu gehen und zu erfahren, wie sie Zaubertränke braut, sich um magische Tiere kümmert oder gegen dunkle Magier kämpfen kann, tingelt meine Schülerin munter durch die große Welt von Hogwarts Legacy. Statt guter Noten sammelt sie Fehlstunden und unsichtbare Notizen. Statt die Bücher zu wälzen, bricht sie in fremde Häuser ein und erkundet mysteriöse Höhlen, immer auf der Suche nach den nächsten nutzlosen Handschuhen.

Der Grund? Ich kann von den sinnlosen Open World-Aufgaben von Hogwarts Legacy nicht genug bekommen - und das macht auch gar nichts, denn letztlich gibt es in der Welt von Hogwarts sowieso keine Konsequenzen.

One More Thing …

Wie in jeder offenen Spielwelt lassen sich auch in Hogwarts Legacy zahlreiche Sammelaufgaben finden, für die Open Worlds in den letzten Jahren einen schlechten Ruf bekommen haben. Sie scheinen einzig und allein dafür da zu sein, um uns länger im Spiel zu halten, ohne tatsächlich einen erzählerischen oder spielerischen Mehrwert - abseits von schicken Klamotten oder Gegenständen für unser Vivarium - zu bieten.

Und doch musste ich irgendwann feststellen, dass ich nicht aufhören kann, sie zu erledigen. Anstatt mich der Story rund um die Koboldrevolution zu widmen, fliege ich mit meinem Besen durch Ballons und lasse diese in einem Konfettiregen zerplatzen. Neue Zaubersprüche in Charakter-Nebenquests lernen? Nur wenn sie mir dabei helfen, die Rätsel der Merlin Trials zu entschlüsseln. Story-Fortschritt? Wenn es denn sein muss … Aber erstmal muss ich noch diese Landeplattform freischalten …

Eine Kleinigkeit jagt die nächste und ich bin gefangen in einem Gameplay-Loop aus “nur noch diese eine Sache”, die mich einst dazu gebracht hat, Civilization 5 zu deinstallieren, bevor es mich noch mehr Stunden meines Lebens kostet. 

Rae Grimm
Rae Grimm

Weil Rae als Kind keinen Game Boy haben durfte, hat sie sich an ihren Eltern gerächt, indem sie Chefredakteurin von GamePro.de geworden ist. Bevor sie sich professionell Videospielen widmete, hat sie beruflich auf andere Knöpfe gedrückt und Fotodesign studiert. Wenn sie nicht gerade fragwürdig viele Stunden in fragwürdig viele verschiedene Online-Shooter steckt, liest sie am liebsten Bücher, baut Lego oder versucht, ihren Heim-Dschungel am Leben zu halten. Sie trinkt zu viel Kaffee und weiß mehr über Batman als eine einzelne Person über Batman wissen sollte. Mittlerweile besitzt sie einen Game Boy.

In weniger als einer Minute zum Dopamin 

Auch wenn die Aufgaben an sich eigentlich sehr belanglos sind und nicht jede Belohnung wirklich interessant ist, sind sie genau durch ihre Einfachheit reizvoll.

Die Challenges in Hogwarts Legacy lassen sich einerseits gut nebenbei erledigen, geben mir aber dank des fairen Belohnungssystems immer wieder den Anreiz, noch kurz eine Etappe zu absolvieren.

Die nächste abgeschlossene Stufe und somit die nächste Belohnung ist immer zum Greifen nah. Keine von ihnen scheint zudem länger als ein paar Sekunden zu dauern, maximal wenige Minuten. Kaum ein Rätsel ist wirklich fordernd. 

Was für die einen Grund zum Ärger sein mag, macht sie für mich zu "snackable content", der sich schnell erledigen lässt. Wie eine sehr befriedigende To-Do-Liste hake ich eine Aufgabe nach der anderen ab und genieße eine Prise Dopamin nach der nächsten. 

Die Zerstörung der Ballons gibt immer wieder einen kleinen Dopamin-Stoß. Die Zerstörung der Ballons gibt immer wieder einen kleinen Dopamin-Stoß.

Die praktisch gesetzten Schnellreisepunkte tragen dazu bei, den so beruhigenden wie einschläfernden Gameplay-Loop zu unterstützen. Ebenso wie die Tatsache, dass ich kaum einen Schritt in der Welt machen kann, ohne über die nächste Aufgabe zu stolpern, die sich ebenfalls innerhalb von Sekunden lösen lässt.

Nach und nach lichtete sich der Symbol-Stau auf der Map, die manche Kolleg*innen als “Ubisoft-Albtraum” bezeichnen würden. Die ich vielleicht selbst so bezeichnen würde, wäre ich nicht gefangen im Gameplay-Loop einer dichten, magischen Welt, die ich nicht verlassen will.

Transfeindlichkeit bei J.K. Rowling: Der Erfolg von Hogwarts Legacy kommt indirekt Harry Potter-Autorin J.K. Rowling zu Gute, die durch bestehende Verlagsrechte und den damit einhergehenden Verkauf der Bücher partizipiert. Rowling fällt weiter aktiv durch Anti-LGBTQIA+-Rhetorik auf und unterstützt aktiv die Anti-Trans-Politik in UK. Wollt ihr euch näher über die Thematik informieren, findet ihr hier eine Zusammenfassung der wichtigsten Kontroversen um Hogwarts Legacy.

Die belanglose Magie einer offenen Welt

Das letzte Mal, dass ich einer Open World so verfallen bin, war 2017 bei Horizon Zero Dawn. Der große Unterschied ist aber, dass ich Aloys Geschichte nicht beenden wollte, weil ich sie so liebte. Die von Hogwarts Legacy ist mir schlicht egal.

Weder Charaktere noch Handlung interessieren mich sonderlich, obwohl beide relativ gelungen sind. Aber ähnlich wie in der Welt von Horizon hält mich die Atmosphäre von Hogwarts Legacy gefangen und bringt mich dazu, einfach das Meiste aus ihr herauszuholen - selbst wenn es bedeutet, dass ich eine Belanglosigkeit nach der nächsten mache, um Items und Cosmetics freizuschalten, die ich eigentlich gar nicht will oder brauche.

Obwohl ich von meinen Freund*innen gern mal für mein Lootverhalten in Servicespielen als “Loot Goblin” bezeichnet werde, ist so ein Spielverhalten für mich dennoch untypisch. Denn wenn ich normalerweise in eine Sammelspirale falle, liegt es immer am motivierenden Gameplay selbst.

Sicher, die Zauber-basierten Kämpfe in Hogwarts Legacy machen durchaus Spaß und auch das Fliegen bereitet mir überraschend viel Freude. Aber physikbasierte, Landeplattformen und Co. sind trotzdem nichts, was mich in dieser Menge normalerweise so packen würde, wären sie nicht eingebettet in die nur so vor Nostalgie triefende Welt von Harry Potter.

Und hätte es irgendeine Konsequenz, was ich so treibe.

Mach doch einfach, was du willst 

Denn das ist ein bisschen die Krux von Hogwarts Legacy: Einfach alles ist egal. Nichts, was meine Figur so treibt, hat einen Einfluss darauf, wie sie gesehen wird.

Dabei ist es egal, ob sie sich mit angeblich unverzeihlichen Flüchen durch die offene Welt pflügt und alles Avada-Kedavra-t, was nicht bei drei den Zauberstab fallen lässt oder ob sie in Wohnhäuser einbricht und vor den Augen von NPCs ihre Habseligkeiten stiehlt. Nichts davon hat eine Konsequenz oder Einfluss darauf, wie andere sie sehen. Niemand kommentiert es auch nur.

Für eine 15-jährige hat mein Charakter mehr Personen auf dem Gewissen als der viel für die Schere zwischen Narrative und Gameplay kritisierte Nathan Drake in der Uncharted-Serie. Auch dass ein Spiel wie Skyrim, das vor über 12 Jahren veröffentlicht wurde, bessere Moral-Mechaniken bei Sachen wie Einbrüchen hat, ist vielsagend und lässt mich enttäuscht zurück.

Hogwarts Legacy - Das Open-World-Spiel im Potter-Universum im Test Video starten 15:23 Hogwarts Legacy - Das Open-World-Spiel im Potter-Universum im Test

Vielleicht sollte es mich daher nicht wundern, dass die hunderten oder tausenden Fehlstunden meiner Hogwarts-Schülerin unkommentiert bleiben, wenn sich niemand für ihre maßlose Verwendung von Flüchen interessiert. Oder dass sie zwar Wilderer verflucht, dann aber selbst magische Kreaturen fängt, in ihre Tasche stopft und dann verkauft. Ich meine natürlich: Rettet.

Die Konsequenzlosigkeit von Hogwarts Legacy hat meiner Motivation, die Hauptstory zu beenden, einen ordentlichen Dämpfer verpasst. So sehr ich die gelungene Atmosphäre des Spiels liebe, es fehlt einfach etwas, wenn all meine Handlungen so unglaublich egal sind. Hogwarts Legacy hätte ein noch besseres Spiel sein können, hätte es ein Moralsystem gegeben (wenn auch bitte nicht das von J.K. Rowling …).

So ist es für mich gerade vor allem ein guter Hogwarts-Walking Simulator, wie Kollege Dennis ihn sich in einer früheren Kolumne gewünscht hat. Und manchmal reicht das sogar. 

Wenn ihr mich entschuldigt, ich muss jetzt noch ein paar Ballons zum Platzen bringen.

Mögt ihr die Nebenaufgaben und Herausforderungen in Hogwarts Legacy auch so sehr wie ich?

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